
rette rette Fahrradkette – Von Pedalen und Privilegien
Die Schwestern Ana und Ida Lutzenberger machten sich mit ihren Fahrrädern auf eine außergewöhnliche Reise Richtung Osten. Über 15.000 km hinweg durchquerten sie 16 Länder, überwanden schneebedeckte Pässe, feierten mit Fremden und entkamen brenzligen Situationen mit Charme und Humor. Auf ihrer Tour erlebten sie nicht nur atemberaubende Landschaften und herzliche Gastfreundschaft, sondern reflektierten auch über Privilegien und Ungleichheiten in der Welt. Ihre Erlebnisse hielten sie in ihrem Buch rette rette Fahrradkette fest. Es erzählt von Abenteuerlust, Schwesternliebe und der Kraft weiblicher Unabhängigkeit. Blickt hier in ein paar Auszüge aus dem Buch und erfahrt mehr von den beiden Künstlerinnen.
Straight Outta Memmingen
Der erste Tritt in die Pedale war lange herbeigesehnt. Die Pandemie hatte den Start der Radreise für Ana und Ida Lutzenberger aus Memmingen lange unsicher gemacht. Doch im Mai 2021 ging es los – eine Reise Richtung Osten. Und wie die Pandemie es so wollte, sollte dies mit dem Fahrrad geschehen. Die beiden Schwestern sattelten ihre beiden Stahlräder Shauny und Eddie – beide älteres Kaliber, aber mit Absicht sehr robust gewählt – und begaben sich auf eine Reise, die insgesamt 15.160 km, 16 verschiedene Länder und 17.548 € gesammelte Spenden für die Seenotrettung beinhalten sollte. Geschlafen wurde dort, wo es schön war; Pausen wurden gemacht, wenn sie nötig waren.
[Buchauszug]
»Dass es ein Vorteil sein kann, mit der altbekannten Schwester unterwegs zu sein, erstaunt die meisten Menschen. Diese Skepsis beruht wohl darauf, dass Geschwisterliebe häufig eher mit Nasenbluten und untergejubelten madigen Ostereiern verbunden ist als mit schwesterlich geteilter Reiselust. […] Tatsächlich haben wir uns unterwegs kein einziges Mal gestritten. Wir sind sogar der festen Überzeugung, dass wir genau deshalb mit allen vier Beinen und Rädern heile wieder zu Hause angekommen sind, weil wir die Reise zu zweit als Schwestern unternommen haben.«
Das Fahrrad als Fortbewegungsmittel ist nun ja keine Besonderheit mehr, 15.000 km damit zurückzulegen hingegen schon. Wie sich das Sitzfleisch bildet und wie man diese Strecke schafft, beschreiben Ana und Ida sehr authentisch.
[Buchauszug]
»Alles reduziert sich auf den Moment. Die Wahrnehmung dehnt sich aus und macht ihn absolut. Man nimmt ihn einfach nur wahr. Den Geruch des Morgennebels. Den Beat eines Vogels, der sich plötzlich anhört wie David Guetta. Den Fluss, in dem man die Trinkflasche auffüllt. Den warmen Sonnenstrahl, der die eisigen Finger an der Lenkradstange wärmt. Den zuckenden Mückenkörper, der am Augapfel klebt, Den Blähungsverlauf im Bauch nach den geklauten Zwetschgen. Den Effekt der Schlaglöcher, die die Autos schleichen lassen. Alles, was man erlebt, gewinnt an Bedeutung.«
Kirgisistan
Die Göttin mit den zwei Goldzähnen
Ida und Ana kämpfen sich mühsam durch Bergpässe in Kirgisistan, genährt durch Kekse und Süßigkeiten, das Ziel fest vor Augen: der See Sonköl auf 3.000 m Höhe im Herzen von Kirgisistan. Bei ihm soll es eine Ansammlung von Jurten geben – runde filzbedeckte Hütten, die mit Kuhfladen beheizt werden. Die Rettung vor dem immer näher kommenden Winter und eisigen Nächten im Zelt. Am See angekommen stellen sie mit Ratlosigkeit fest, dass die Hütten bereits zur Überwinterung ins Tal transportiert wurden. Doch wie eine glückliche Fügung formierten sich am Ufer fünf weiße Wölkchen, die zu ihrer Rettung leiten sollten.
[Buchauszug]
»Es ist schwierig etwas zu beschreiben, was selbst das eigene Auge nicht fassen kann. Beinahe im Sekundentakt mussten wir uns kneifen, um uns davon zu überzeugen, dass die Berglandschaft, die wir erblickten, kein Kalenderblatt war. Rosa-gelbe Gipfel tauchten hinter grünen Bergen auf. Die fremden Farben und Formationen bestätigten uns, dass wir mittlerweile wirklich weit von zu Hause weg waren. Währenddessen näherten wir uns mit jedem Höhenmeter dem Schnee. Bald würde uns der Winter begleiten.
[...]Als wir schließlich fünf Jurten vor uns sahen, schwebten wir bereits auf Wolke sieben. Soweit das Auge reichte, waren es die letzen Filzhütten, die nach dem Zug ins Tal übrig geblieben waren. Es überraschte uns kaum noch, dass wir von einer Göttin bewirtet wurden. Getarnt als bezaubernde Oma mit Zwei-Goldzähnchen-Lächeln begrüßte sie uns warmherzig und behauptete, sie wolle noch bis November mit ihrer Kuh dort ausharren. Offensichtlich kümmerte sie sich um alle fröstelnden Erdlinge, die den Einbruch des Winters nicht auf dem Schirm hatten. […] Nachdem wir unsere Bäuche mit ihren göttlichen Speisen gefüllt hatten, rollten wir rund und zufrieden in unser himmliches Gemach. […] Spätestens als die Oma unsere Jurte abends mit getrockneten Kuhfladen einheizte, waren wir uns sicher, dass wir bei einem göttlichen Wesen gelandet sein mussten. Bewegt errichteten wir ein Dankesgebet. »Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Äuglein zu. Goldzahn-Göttin, lass die Augen dein über meinem Bette sein. Amen.«
Radeln ohne Grenzen
Auch wenn man sich wünscht, dass es keine Rolle spielt, ist natürlich das Reisen als Frau ein wichtiges Thema des Buches. Es lässt sich nicht vermeiden, über die Stellung von alleinreisenden Frauen in bestimmten Kulturen zu sprechen. Doch die Bilanz der beiden Schwester ist klar:
»Nach unserer Reise würde wir sagen, dass man als Frau genau dorthin gurken sollte, wo man hinmöchte, und dafür genau das Fortbewegungsmittel wählen sollte, dass man am liebsten mag.«
Das Buch berichtet von Reisen und Erlebnissen, als würden gerade Freunde berichten, so richtig zum mitfiebern und mit den wundervoll gestalteten Grafiken auch zum eintauchen. Gleichzeitig drückt es eine tiefe Dankbarkeit aus. Dankbarkeit für das eigene Aufwachsen, das den Mut zur Reise und die Schwester als Reisepartnerin brachte. Dankbarkeit für die vielen hilfsbereiten und warmherzigen Menschen auf dem langen Weg. Und Dankbarkeit für die eine Welt voller Wunder und nicht zuletzt die Freiheit, die ein deutscher Pass mit sich bringt.
Abenteuer in Wort und Bild
Das Buch rette rette Fahrradkette ist ein liebevoll gestalteter Reisebericht, der eine außergewöhnliche Fahrradtour durch Europa und Asien dokumentiert. Mit humorvollen und nachdenklichen Geschichten, selbstgestalteten Illustrationen und Malereien fängt es die Vielfalt und Schönheit der bereisten Länder ein und spielt dabei mit Farbe und emotionaler Wahrnehmung. Gleichzeitig lädt das Buch auf eine visuelle Reise ein, die Welt durch die Augen zweier kreativer Teilzeit-Nomadinnen zu erleben, und verbindet persönliche Erlebnisse mit gesellschaftlicher Reflexion sowie einem Spendenprojekt, das das Privileg eines sicheren Herkunftslandes verdeutlicht.
»Dieses Buch ist allen gewidmet, die ihre Heimat verlassen müssen, aber nicht wollen, und allen, die ihre Heimat verlassen wollen, aber nicht können.«
rette rette Fahrradkette von Ida und Ana Lutzenberger | @rette_rette_fahrradkette
36 € | via Reisedepeschen Verlag | Hardcover | deutsch | mit Illustrationen der Künstlerinnen
Ana und Ida haben mit rette rette Fahrradkette ihre Radreise wundervoll in Wort und Bild zusammengefasst und ein echtes Sinneserlebnis geschaffen. Zur musikalischen Abrundung gibt es eine Spotify-Playlist, die die Schwestern auf der Reise begleitet hat und das Freiheitsgefühl untermalt. Alle Infos zu Lesungsterminen gibt es beim Reisedepeschen Verlag. Eine weitere inspirierende Frau auf dem Bike findet ihr in unserem Artikel Bikepacking Kanaren – Solo-Abenteuer auf der Gran Guanche, in dem Jasmin die Kanaren per Gravelbike erradelt.
Habt ihr Geschwister und wart viele Monate gemeinsam auf Reisen? Erzählt uns von euren gemeinsamen Erfahrungen in den Kommentaren!