Forschung auf Spitzbergen – Die Geheimnisse der Möwenwelt


Nora StampeText / Fotos

Hier stehe ich nun also. Unter mir der weiche Boden, hinter mir die feste Felswand und vor mir die Weite des arktischen Fjords. Ich spüre den kalten Wind auf meinem Gesicht und rieche die Möwenkolonie. Aber am eindrücklichsten sind die Geräusche. Man kann sich kaum vorstellen, wie laut es in einer Vogelkolonie ist – und zwar ununterbrochen. Hier brüten Dreizehenmöwen, die auf Englisch Kittiwake heißen. Den Namen haben sie wegen ihrer Schreie, genau so klingt es nämlich: kittiwaaaake kikittiwaake – nur hundertfach. In der Ferne höre ich über das Geschrei der Vögel das Grollen der kalbenden Gletscher. Vor einigen Tagen bin ich in Ny-Ålesund angekommen, um den Einfluss des Klimawandels auf arktische Möwen zu erforschen. Ich nehme euch mit auf meine Expedition Spitzbergen in die nördlichste Siedlung der Welt.

Auf nach Spitzbergen
Der Klang nach Abenteuer


Ein halbes Jahr zuvor hatte ich meinen Master in Ökologie an der Uni Bergen in Norwegen angefangen. Neugierig auf das Land und hungrig auf Wissen fragte ich unsere Studienberaterin, wie ich es hinbekommen könnte, auf die Inselgruppe Spitzbergen zu kommen. Auf norwegisch heißt das Archipel im Nordatlantik Svalbard, was kalte Küste bedeutet und für mich vor allem nach Abenteuer klang. Wahrscheinlich hat Philip Pullmann mit seiner Geschichte Der goldene Kompass dazu beigetragen, dass mir dieser Name viel passender erscheint als Spitzbergen – auch wenn die Berge dort wirklich spitz sind. Die Studienberaterin erzählte mir von einem Professor, der gerade von dort zurückgekommen war. Und ich hatte Glück: Er bot mir ein Projekt an, in dem ich den Einfluss des Klimawandels auf arktische Möwen und ihren Reproduktionserfolg erforschen konnte.

Sechs Monate später sitze ich in einer 12-Personen-Propellermaschine und bewundere die unendliche Eislandschaft der arktischen Gletscher unter mir. Unser Ziel: Eine der nördlichsten dauerhaften Siedlungen der Welt, die nur 1.231 km von Nordpol entfernt liegt – Ny-Ålesund auf dem norwegischen Archipel Spitzbergen.

Unter Arktis-Expert:innen

Rund 100 Personen halten sich im Sommer in Ny-Ålesund auf, wenige hingegen im Winter. Personen aus aller Welt, die ihre Arbeit damit verbringen, die Arktis und den Klimawandel zu erforschen. Neben mir sind nur noch zwei weitere Masterstudentinnen in der Siedlung.

»Ganz schön einschüchternd, all die Expert:innen für Glaziololgie, Ökologie oder Meteorologie zu treffen, die endlose Geschichten über harte Winter, Eisbärenbegegnungen und der Kindheit am Nordpolarmeer zu erzählen haben.
Ich fühle mich wie ein Eindringling, und als ob ich kein Recht hätte, hier zu sein.«

Doch zum Glück werden wir von allen freundlich und offen aufgenommen und nach ein paar Tagen immer selbstbewusster. Eigentlich bleibt uns auch nichts anderes übrig, denn wir verbringen jede Mahlzeit und jeden Abend mit allen zusammen. Und ich merke auch, dass all die Arktis-Koryphäen „ganz normale“ Leute sind – dankbar dafür, ihren Forschungsinteressen an diesem besonderen Ort nachgehen zu dürfen. Und ich bin nun eine davon.

Erste Schritte in der Dreizehenmöwen-Kolonie

Am Morgen nach unserer Ankunft geht es ausgestattet mit Survival Suits, die uns lebenswichtige Minuten im eisigen Wasser sichern sollen, Eisbärenschutz und unserer Ausrüstung endlich los. Mit einem kleinen Motorboot machen wir uns auf über den Fjord zu der Möwenkolonie, in der wir die nächsten Wochen verbringen werden. Wie viele Seevögel brüten auch Dreizehenmöwen in Kolonien in direkter Nähe zum Wasser – zusammen ist es einfach sicherer. Ich lerne, wie ich Möwen so aus ihrem Nest fangen kann, dass sie oder ihre Eier und Küken keinen Schaden nehmen, wie ich sie halten muss, um ihren Stress zu minimieren und wie ich am besten an meine Proben komme, die aus hochgewürgten Fisch- und Krillresten bestehen. Mit diesen Nahrungsresten möchte ich herausfinden, was die Möwen in ihrer Brutperiode an Energie zur Verfügung haben.

Polarfüchse, Robben und der König der Arktis 

Zwar ist mir bewusst, dass es Eisbären auf Spitzbergen gibt, denn im Sommer, wenn das Meereis schmilzt, halten sich hunderte Bären auf der Inselgruppe und in der Nähe auf. Uns wurde jedoch gesagt, dass an unserem Forschungsort kein Eisbär vorbeikommen würde. Denn der Strand läge außerhalb ihrer Wanderrouten. Um herauszufinden, wer dennoch alles so unterwegs ist, wenn wir den Ort verlassen haben, habe ich meine kleine Wildkamera neben der Kolonie am Strand positioniert. Ich habe unzählige Aufnahmen von Rentieren (auf Spitzbergen gibt es eine Unterart mit ganz kurzen Beinen), Polarfüchsen, Schneehühnern und natürlich Möwen. Jeden Morgen schaue ich mir die Bilder der letzten Nacht an und plötzlich, an dem Strand, an dem angeblich nie Eisbären vorbeikommen, erscheint auf der Kamera eine Mutter mit ihrem Jungtier – nur wenige Minuten nachdem wir am Tag zuvor Feierabend gemacht hatten. Während der folgenden Wochen sehen wir nicht nur mehrere Eisbären aus sicherer Entfernung, sondern bewundern auch Polarfüchse, Walrosse, und Bartrobben. Und natürlich etliche Vögel wie Krabbentaucher, Schneeammern, Papageintaucher oder Elfenbeinmöwen. Svalbards Vogelwelt ist einfach unglaublich – Vogelfreund:innen wie ich kommen wirklich auf ihre Kosten.

Lernen von den Vögeln

Der weiche Untergrund unter meinen Füßen besteht aus Nestern, die über die Jahrhunderte aus der Klippe gestürzt sind und mittlerweile einen Hügel bilden. Er ist die Heimat einer Polarfuchsfamilie geworden und in diesem Sommer hat die Fähe 4 Welpen geboren. Wir beobachten die Familie täglich, die nicht nur unter, sondern auch von der Kolonie lebt. Wenn ein Küken aus dem Nest fällt, nehmen die Eltern es nicht zurück, es ist verloren. In all der Tragik sichert das aber das Überleben der Fuchsfamilie. Ein gutes Möwenjahr ist auch ein gutes Fuchsjahr, in einem schlechten Möwenjahr bekommt die Fähe keine Welpen. Auch der Fjord, auf den ich schaue, ist natürlich voller Leben wie Plankton, das von größeren Organismen gefressen wird, die dann wiederum im Magen der Möwen landen. Es ist genug für alle da, alles ist miteinander verknüpft und voneinander abhängig. Nie zuvor habe ich so eindrücklich den Kreislauf der Natur verinnerlicht.

Der Winter im Nordpolarmeer

Im Winter bin ich zurück, um an meinen Proben zu arbeiten. Die meisten Tiere sind mittlerweile weg, um den Winter im Warmen oder auf dem Meer zu verbringen. Nur puschlige Rentiere, Polarfüchse und Schneehühner sind noch hier. Aus dem ewigen Licht im Juli wird ewige Dunkelheit im Februar. Wobei, ewig ist sie nicht: Der Schnee von den umliegenden Bergen reflektiert das wenige Licht, das es bis hier oben schafft. Tagsüber, wenn die Sonne dem Horizont etwas näher kommt, ist alles mit einem blauen Schein erfüllt. Und die Aurora Borealis – das Nordlicht– erfüllt den Himmel mit einem magischen Schein.

Ich merke, wie mir die Dunkelheit aufs Gemüt schlägt und auch meine Gedanken immer finsterer werden. Ein gutes Mittel gegen die erdrückende Dunkelheit ist es, so viel wie möglich draußen zu sein. Zwar muss man viel Zeit mit An- und Ausziehen verbringen, aber die Belohnung sind Touren mit dem Schneemobil über den gefrorenen Fjord, Erkundungen von Eishöhlen und Wanderungen mit anschließender Schlittenfahrt ins Tal.

Zerbrechliche Unendlichkeit

So unendlich und unantastbar scheint mir diese Welt aus Schnee und Eis. Dabei habe ich den Beweis für ihre Zerbrechlichkeit vor mir auf dem Labortisch liegen. Die Proben, die in vielen Sommern gesammelt wurden, zeigen, dass sich das Leben im Fjord verändert. Mit wärmerem Atlantik-Wasser kommen auch mehr atlantische Arten in die arktischen Fjorde. Statt Polardorsch und arktischem Krill waren immer häufiger Heringe oder atlantische Krebstiere in der Nahrung der Möwen, die in der Regel weniger Energie haben als ihre arktischen Pendants. Weniger Energie für die Dreizehenmöwen, um ihre Eier zu legen und Küken zu versorgen, weniger für die Polarfuchswelpen, weniger für die Robbenjungen, die Walkälber und die Eisbärenjungen. Die Arktis erwärmt sich bis zu 3-mal schneller als der Rest der Erdoberfläche. Dadurch ziehen sich die gewaltigen Gletscher jedes Jahr um mehrere Meter zurück. Die Konsequenzen kennen wir alle. 

»Die Arktis hat mich viel über mich selbst und über unsere Natur gelehrt. Aber auch, dass dieses wunderschöne Schauspiel nicht mehr lange da sein wird.
Dass diese unendlich alten Kreisläufe zerbrechen werden.
Dass der Verlust unverzeihlich sein wird, wenn wir nicht alle etwas dagegen tun, dass sich unser Klima weiter erwärmt.«


Auf unserem Online-Magazin machen wir Frauen und ihre Outdoor-Abenteuer sichtbar. Die Natur zu zelebrieren hat dabei unglaublich viele Facetten. Während sich manche Frauen auf die höchsten Berge der Welt begeben oder mit leichtem Gepäck auf unbekannten Pfaden ihren Körper spüren, lieben es die nächsten, ihre Herausforderungen mit Gleichgesinnten auf dem Fahrradsattel oder wellenreitend auf einem Surfbrett auszuleben. Oder es gibt Frauen wie Nora, die die Natur „nicht nur“ aktiv erleben, sondern sie auch gleichsam erforschen, um den Begebenheiten, die uns umgeben, auf den Grund zu gehen; um genauer hinzusehen und ihre Kreisläufe und die Zerbrechlichkeit der Existenzen zu verstehen.

Über die Autor:in

Nora Stampe

Nora hat irgendwann einmal ein paar Semester VWL studiert. Aber eigentlich möchte sie nur den ganzen Tag draußen sein und Vögel beobachten. Deshalb hat sie sich dazu entschieden stattdessen Ökologie zu studieren und die Feld-Wald- und Wiesenbiologin zu werden, die sie eigentlich sein möchte.

Wilder
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