Alpen Hüttentour – Sieben Tage auf der Alta Via 1
Ein großer Felsbrocken mitten im Geröllfeld: da lehne ich jetzt also, drücke mich in das kleine bisschen Schatten. Mein Kopf glüht mit der Sonne um die Wette, die Haut klebt, das Herz schlägt fast schon im Hals. Das Gebiet ähnelt einer Wüste auf einem fremden Planeten. Durchatmen, am Stein abkühlen. Bis zur Lagazuoi Hütte wartet kein einziger Baum – nur Steine und der Weg vor Augen, der nicht kürzer werden will. An diesem Punkt unserer Alpen Hüttentour in den Dolomiten haben wir die Hälfte der Strecke durch die Hochebenen Südtirols noch gar nicht geschafft…
Wir, das sind meine erprobte Reisepartnerin Steffi und ich. Insgesamt legen wir in 7 Tagen eine Distanz von 92,5 km zurück. Die 5.700 hm bergauf lassen lediglich Luft für den Austausch lebensnotwendiger Informationen wie „Wasser“, „Pause“, „Sonnencreme“ und „Foto“. Während der Abstiege über gut 5.500 hm gewinnen die Gespräche an Tiefe: Es geht um den Sinn der Arbeit, um Familie, Beziehung und manchmal auch: die Zweifel an unserem Vorhaben.
Zweifel und Aufbruch
Bereits fünf Jahre stand der Dolomiten-Höhenweg – die Alta Via 1 – auf meiner Bucket-List. Lange traute ich mich nicht, wartete auf bessere Fitness, verschob den Plan. September 2023 wandern wir los. Die Wettervorhersage verspricht ideale Bedingungen. Aber: Seit meiner letzten Mehrtageswanderung sind 10 Jahre vergangen. Ich bin jetzt 33 Jahre und 15 kg schwerer.
All diese Gedanken begleiten mich: auf der Fahrt nach Italien und in aller Schärfe am Morgen des Aufbruchs. Mit leicht zitternden Händen schließe ich das Auto ab. „Bis dann, Fiat!“ Ab jetzt geht es zu Fuß weiter. 10 Jahre. 15 Kilo. Gedanken vertreiben. In den Bus steigen. Am Pragser Wildsee aussteigen. Über dessen Schönheit staunen. Und auf den Weg konzentrieren. Einfach von A nach B laufen – das ist jetzt unsere einzige Aufgabe. Beängstigend und befreiend zugleich.
7 Tage auf der Alta Via 1
Alpen Hüttentour – Dolomiten-Höhenweg
Etappe 1
Pragser Wildsee ›
Sennes-Hütte
Vom Pragser Wildsee geht es über steinige Wege steil nach oben. Der Blick zurück ist ein guter Grund regelmäßig stehen zu bleiben und durch den Kamerasucher zu schauen. Knips, schnauf. Steffi geht voraus. Bei ihr sieht es viel leichter aus. Mein Herz pocht, ich atme schwerer, als mir lieb ist, der Rucksack drückt. Die Bergkulisse vor uns ist imposant, zugleich etwas bedrohlich. In dem Moment schiebt sich die Sonne über das felsige Haupt der Berge. Wir bleiben stehen. Knips, schnauf. Die Schönheit des Augenblicks lässt den schweren Atem vergessen.
»Wir kommen da schon rein!« Im gegenseitigen Beruhigen sind wir gut.
Personifizierter Leistungsdruck – Der Mann im roten Shirt
Die Ruhe der Bergwelt stört ein Herr im roten Shirt, der uns immer wieder mit Fragen einholt: Wie die Hütte heißt, zu der wir wollen? Haben wir in der Aufregung vergessen! Wie viele Tage wir unterwegs sind? Sieben! Ob es unsere erste Alpen Hüttentour ist oder wir viel Erfahrung haben? Ja und Nein! Personifizierter Leistungsdruck! Ein guter Antrieb, mehr Abstand zwischen ihn und uns zu bringen.
Hinter einer kleinen Kuppe liegt die Seekofelhütte – mitten in einem Meer aus Steinblöcken. Dahinter ein Panorama aus blaugefärbten Gipfeln. Und der Weg führt runter. Ein Traum! Bis der Mann im roten Shirt wieder auftaucht. Er weist uns darauf hin, dass es rechter Hand noch einen Gipfel gäbe, auf den man steigen könnte. Hallo FOMO! Wir wägen ab und beschließen weiterzugehen. An der Hütte angekommen, feiern wir unser Zweibettzimmer und die Lage der Hütte. Von einer erhöhten Bank direkt davor schauen wir in die Ferne, als plötzlich etwas Flauschiges vor uns über die Wiese hoppelt – Murmeltiere! Alles richtig gemacht!
Etappe 2
Sennes-Hütte ›
Lavarella-Hütte
Tag Zwei. Hello again Socken vom Vortag. Spart Gewicht im Rucksack und war der erste Tipp zum Thema Alpen Hüttentour.
Es geht bergab – mehr Luft zum Atmen und für tiefe Gespräche. Nach der ersten Einkehroption in Pederü geht es wieder hoch. Hartnäckig drängt sich mir die Frage auf, wofür man eigentlich erst alles nach unten laufen muss, um dann wieder die gleiche Höhe zu gewinnen. Vermutlich hat am Ende jeder Teil des Weges seine Berechtigung.
Alpen Hüttentour
Ähnlich wie gestern erreichen wir ganz unverhofft die erste spektakuläre Hochebene voller niedriger Nadelbaumgewächse. Beeindruckend, wie unterschiedlich die Landschaften hier oben sind. Die zweite Tagesetappe führt uns zum Limosee. Je mehr wir uns nähern, umso unterschiedlicher sind seine Farben. Das Gebirge ringsum erinnert mich an Patagonien: Aber nein, auch das ist Italien. Zum Abendessen erwarten uns Maccaroni. Deckt sich gut mit dem zweiten Tipp für die Alpen Hüttentour: Wer wandert, muss Pasta essen. Wird gemacht! Und da die Lavarella-Hütte eine eigene Brauerei hat, gibt es noch ein Bier dazu. Kalorien doppelt eingeholt? Check!
Wasser – Thema der 2. Etappe der Alpen Hüttentour Bei den Temperaturen eine angenehme Erfrischung.
Die Gebirgslandschaft rund um den Limosee
erinnert mich spontan an Patagonien.
Etappe 3
Lavarella-Hütte ›
Rifugio Lagazuoi
Morgenstimmung!
Heute Morgen geht es angenehm dahin – bisschen auf, bisschen ab. Dennoch wandern die Gedanken manchmal zu den 1.100 hm, die heute zu bewältigen sind. Gedanken, die verfliegen, als wir die nächste Hochebene erreichen: grüne Hügel, eine Landschaft, wie ich sie mir auf Island vorstelle. Davor grast eine Pferdeherde. Wir nähern uns vorsichtig, fast andächtig, wollen sie nicht verscheuchen. Sie grasen und schreiten dekorativ umher. Fast als hätte sie das Tourismusbüro eigens dafür dressiert.
»Dann sehe ich plötzlich den ersten Pass vor mir. Grau, steil, der Weg ist nur erkennbar dank der im Verhältnis winzigen Wandernden. Wie sollen wir da hochkommen?«
Der Blick bleibt auf meinen Füßen. Stellenweise ist es eng und die mögliche Fallhöhe verdammt weit. Ich konzentriere mich auf die Stelle, wo ich als nächstes auftrete. Doch wir kommen gut voran und überqueren den Pass. Vor uns liegt nun eine Felslandschaft unterschiedlicher Schattierungen. Auf dem Höhenprofil ist diese Passage senkrecht nach unten eingezeichnet. Und genau so sieht die Realität aus. Körperlich einfach, mental eine Herausforderung. Wir loten den weiteren Weg aus. Schritt für Schritt, bloß nicht aufschauen. Der Bergsee wartet wie eine Oase inmitten der Felsen auf uns: Lunch, Füße ins Wasser, kurz abschalten.
Das Geröllfeld gleicht einem fremden Planeten
Der Abschnitt bis zur Hütte liegt in ganzer Länge erkennbar vor uns. Das Geröllfeld gleicht bei dieser Sonneneinstrahlung einer Wüste auf einem fremden Planeten. Mein Wasser ist fast aufgebraucht, das Herz schlägt bis in den Hals, die Haut klebt. Im Schatten eines Felsen lehnen wir uns an den kühlen Stein. Schon verrückt, wie sehr ich einen kalten Stein zum Anlehnen, frischen Wind und lauwarmes Leitungswasser zu schätzen lerne. Und trotz aller Romantik kommt mir kaum fünf Minuten später doch wieder ein „Boah, Scheiß Weg! Scheiß Hütte! Sie kommt nicht näher“ über die Lippen.
Ein Selfie mit Jesus
17 Uhr. Wir sind oben! Und gerade diesen Teil haben wir zum ersten Mal in der Zeitangabe geschafft. Keine Ahnung, wie. Wir marschieren zum Gipfel. Und da kommt Jesus ins Spiel, der es am Gipfelkreuz mit auf unser Selfie schafft. Vielleicht ist es die Erschöpfung oder der Übermut, aber wir merken es erst danach und finden es unfassbar witzig.
Etappe 4
Rifugio Lagazuoi ›
Croda da Lago
Am Vorabend hatten wir die schroffen Felsen in der Distanz entdeckt und uns gefragt, wer wohl so wahnsinnig wäre, da herumzuklettern. Jetzt wissen wir es. Meine Finger krampfen sich um das Stahlseil und ich hoffe, dass wir es bald in den Tunnel schaffen. Hier draußen geht es mir eindeutig zu weit nach unten. Nach zehn Minuten gefühlter Ewigkeit entdecke ich einen dunklen Türrahmen – die Öffnung zum Tunnel.
Der Tunnel will nicht enden. Im Schein der Stirnlampe folgt eine hohe rutschige Stufe auf die nächste. Ich muss große Schritte nach unten machen und mich gleichzeitig bücken, um das Seil zu greifen. Nicht die praktischste Kombination – weder für kleine noch große Menschen. Aber nicht Festhalten ist keine Option. Alles ist nass, rutschig, eng und dunkel. Dann endlich Licht, ein Felsenfenster und die Erkenntnis: uns fehlt noch ein ganzes Stück.
Endspurt durch den Märchenwald
Heute scheint der Tag gekommen zu sein, an dem ich es nicht mehr packe. Der Weg ist gut und breit, aber ich leider schon echt ausgelaugt. Es geht nach oben und die Zeit drängt. Ich kämpfe, falle zurück. Meine Lunge kommt nicht hinterher, ich muss husten, bleibe stehen, schaue nach oben – Endspurt durch den Märchenwald. Allein die Sorge, nicht rechtzeitig anzukommen, treibt mich noch an. Den See rechter Hand nehme ich halb wahr. Endlich stolpern wir durch die Tür der Hütte Croda da Lago. Das Abendessen verläuft einsilbig. Wir sind beide komplett erschöpft, körperlich und mental. Steffi isst als Vor- und Hauptspeise Spaghetti. Gerechtfertigt! Zum Duschen fehlt mir die Energie. Was bleibt ist einfach nur Angst vor dem nächsten Tag.
Etappe 5
Rifugio Croda da Lago ›
Rifugio Coldai
Mit mulmigem Gefühl verlasse ich die Hütte. Unterwegs löst sich langsam die Anspannung. In einem Tal lausche ich dem Fiepen der Murmeltiere, im nächsten den Glocken der Kühe. Richtige Klangreise heute. Und da hören und laufen gut parallel funktioniert, schaffen wir es flott nach Fiume.
Der letzte Anstieg zur Hütte ist steil und anstrengend, aber er fühlt sich machbar an. Knips, schnauf, weiter. Geschafft – wir sind am Rifugio Coldai. Die letzten Höhenmeter bis zum See legen wir ohne Rucksäcke zurück. Flott, aber steil geht es nach oben. Felsen über Felsen, an einigen Stellen möchte ich gerne auf allen Vieren weiter klettern. Der Lago di Coldai ist ein Ort wie aus einer anderen Welt. Zahllose Blautöne inmitten einer Berglandschaft, die sich als Kulisse für einen Fantasyfilm eignen würde. Grün bewachsenes Gestein, dahinter raue, nackte Felswände in hellem Grau.
Etappe 6
Rifugio Coldai ›
Rifugio Vazzoler
Nach oben bin ich dankbar für meine Wanderstöcke und überrascht, wie schnell wir erneut am See sind. An diesem windstillen Morgen sehen die Spiegelungen im Lago di Coldai wunderschön aus. Es folgen Schotterfelder und Abschnitte aus Zauberwald. Die landschaftliche Vielfalt der Hochebenen gemischt mit dieser angenehmen Einsamkeit lassen mich fernab der Zivilisation fühlen. Über lange Strecken sind wir die einzigen Menschen. Und wenn ich zurückschaue, staune ich selbst, dass wir manche Wegabschnitte finden und meistern – Ein Hoch auf GPX. Im Schatten der massiven und spektakulären Nordwände der Civetta laufen wir zum Rifugio Tissi. Es ist halb zwölf. Den dritten Rat der Alpen Hüttentour, jeden Abend Aperol zu trinken, ziehen wir jetzt eben vor.
In persönlicher Rekordzeit erreichen wir um 16 Uhr unsere letzte Unterkunft: das Rifugio Vazzoler.
Und sind direkt überfordert, was wir jetzt noch alles tun können. Die Hütte mitten im Wald würde gut in ein Märchenbuch passen mit ihren roten Blumen und Fensterläden.
Etappe 7
Rifugio Vazzoler ›
Niederdorf
Wir laufen los. Zum letzten Mal. Eine gewisse Nostalgie begleitet mich, während Torre Venezia und Trieste langsam ins Tageslicht getaucht werden. Der Weg führt auf und ab durch Gestein, niedrige Büsche, Waldstücke und Flussbetten. Ein Kontrast aus Weiß, Grün und Blau. Auf den letzten Metern wird der Weg zunehmend matschig, aber ich fühle mich phänomenal. Meine Gedanken hasten zwischen „Bloß nicht ausrutschen“ und „Wow, wir haben es geschafft“ hin und her.
Ziemlich kurvenreich geht es mit Fabio in seinem Bustaxi zurück. Verrückt, wie wir in gut zwei Stunden die Strecke zurückfahren, die wir in sieben Tagen gelaufen sind. Fabio weist uns auf die Berge hin, die wir aus nächster Nähe gesehen haben und er reiht sich wunderbar in die bisherigen italienische Taxifahrer ein, die ich kenne. Er fährt souverän, aber echt schnell. Überholt jeden, wo es eben geht und schimpft passioniert über Geschwindigkeitsgrenzen und Baustellen in Österreich.
Alpen Hüttentour – Danke Südtirol, danke Körper
Zurück in Dorfen wartet Steffis amüsiert besorgte Mutter, die uns mit „Oh, ihr seht aber verwahrlost aus“ begrüßt. Wir lachen. Kein Wunder. Aber Frisur und Beine werden sich erholen. Die Erinnerung bleibt und das gute Gefühl, es geschafft zu haben. Trotz 15 kg mehr. Weitwandern verlangt Können und Kondition, vor allem aber Willenskraft. Und der wichtigste Schritt ist wie so oft, der Erste: Planen und loslaufen. Abschließend freue ich mich auf eine warme Dusche, ohne klopfende Menschen vor der Tür und sage: Danke Südtirol, danke Körper!
Lisa aka Strawanzerin ist Redakteurin, begeisterte Geschichtensammlerin und Fotoknipserin. Auf ihrem Reiseblog bringt sie euch mit ihren Abenteuern Reiseziele Europas näher und berichtet aus einem ihrer liebsten Reiseziele: Mexiko. Eine Alpen Hüttentour habt ihr bereits erlebt, jedoch das ganze noch nicht mit Biwak und Zelt unternommen? Dann lasst euch von Sarah in ihrem Artikel Tour du Mont Blanc – 9 Tage wandern durch drei Länder (mit Zelt) auf eine Alpentour mit nächtlichen Wildnis-Faktor mitnehmen.
Wart ihr auch schon auf einer Hüttentour unterwegs? Was war eure größte Herausforderung? Berichtet es uns in den Kommentaren!