»270 Grad Westen, Steuerfrau!« – In sechs Steps zur Steuerfrau


Ulrike PotmesilText / Fotos

Unsere Freund:innen erklärten uns als verrückt, als mein Mann und ich ihnen erzählten, wir würden unsere Jobs kündigen, ein Boot kaufen und den Atlantik besegeln. Immerhin stammen wir aus Niederösterreich, der Teil Europas, der ohne Meer, sogar ohne See auskommen muss. Aber wir taten es – und erlebten ein Jahr voller Freiheit, Glück, Angst und Abenteuer. Ein Jahr, in dem ich von einer Landratte zur Steuerfrau wurde. Erfahrt in diesem Artikel, welche sechs Steps dazu nötig waren.

»Letztendlich wuchsen wir an der Verantwortung füreinander und unser Boot – wurden ein eingespieltes Team, wurden Maha Nandas Captain und Steuerfrau.«

Mein Jahr am Atlantik – In sechs Steps zur Steuerfrau

Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich besitze kein Offizierspatent, noch schlimmer, ich habe nur einen Segelschein, der mich offiziell dazu befähigt, Binnengewässer zu besegeln. Mein Mann Christoph ist offiziell der Skipper, der Mann mit den Patenten und der Verantwortung für Schiff und Besatzung und das ist richtig und wichtig so. Persönlich geht es mir aber nicht um Titel, um Befähigungsnachweise, Führerscheine, Prüfungen und behördliche Dokumente. Wer ein Jahr zu zweit auf dem Meer verbringt, braucht in erster Linie Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ebenso wie in die des Partners. Vertrauen, das sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, – in dem Maße, in dem sich unsere Fähigkeiten steigerten. Wir reisten und lernten dazu, kassierten Niederlagen und fuhren Triumphe ein. Wir lebten gemeinsam, genossen gemeinsam und bangten gemeinsam. Letztendlich wuchsen wir an der Verantwortung füreinander und unser Boot – wurden ein eingespieltes Team, wurden Maha Nandas Captain und Steuerfrau.

Step 1
Kauft ein Boot

Als wir beschlossen, in zwei Jahren unsere Reise zu beginnen, besaßen wir kein Segelboot. Nicht mal ein Schlauchboot oder ein Kanu, denn, wie gesagt, unsere Heimat ist küstenlos. Wir haben viel Ebene und viel Landwirtschaft, aber kaum Wasser. Immerhin hatten wir Vorarbeit geleistet, hatten jahrelang online Maklerseiten durchwühlt und fanden rasch unser geeignetes Segelboot: eine Wibo Design 1100 Van de Stadt, 36 Fuß, Baujahr 1980. Eine renovierungsbedürftige Stahlyacht mit Heimathafen Lemmer, am friesländischen IJsselmeer.

Erste Lektion: Learning by doing heißt, sein Boot in- und auswendig kennenlernen. Und so arbeiteten und renovierten wir uns durch zwei Jahre, organisierten die notwendige Ausstattung unseres Boots, dem wir den Namen Maha Nanda – Sanskrit: Das große Glück – gaben.

Step 2
Startet los

Das klingt jetzt vielleicht unnötig. Klar muss man starten, um zu reisen. Aber das ist gar nicht so selbstverständlich. Denn jede:r Segler:in kennt die To-Do-Liste vor dem Start und das Parodoxon – nämlich, dass die Liste immer länger wird, je mehr frau abhakt. Und so wird ein Segelboot eben nie fertig, das ist die Realität. Also muss irgendwann das Startdatum festgesetzt und ohne Ausreden, derer es so viele gibt, wie die Liste lang ist, eingehalten werden. Die To-Do-Liste? Die wird im Laufe des Jahres immer weiter abgearbeitet und um neue To-Dos ergänzt. Das ist der Segler:innenalltag.

Bloggen mitten auf der Biscaya

Step 3
Seid mutig und riskiert nichts

Was bedeutet eigentlich Mut? Für meine Eltern, für viele Freundinnen gelte ich als mutig, weil ich meine Pläne in die Tat umsetzte. Weil ich meinen Job aufgab, auf ein kleines Boot stieg und mich der Gewalt des Wassers und des Windes aussetzte, weil ich Sicherheit gegen unbekannte Erfahrungen tauschte. Ich wiederum kenne so viele Seglerinnen, die bedeutend mehr meisterten als ich. Einhandseglerinnen, also allein an Bord, die die Welt umsegelten, sich in Reviere wagten, deren Namen schon respekteinflößend sind. Frauen, die Jahrzehnte auf Reisen sind, deren Lebensphilosophie die fehlende Lifeline im Leben ist. Das sind meine Vorbilder: diese Frauen stehen für Mut.

Andererseits ist es besser, kleine Schritte ins Unbekannte zu setzen, als sich gar nicht hinauszuwagen. Voilá – das taten wir. Wir starteten am IJsselmeer, segelten erst durch die friesländischen Kanäle, dann weiter bis Amsterdam, durch den Nordseekanal an die Nordsee und weiter bis zum Ärmelkanal. Auf dieser unserer ersten Etappe lernten wir die Segeleigenschaften unserer Maha Nanda kennen, machten uns mit den Manövern vertraut und auch mit der Teamarbeit und dem Alltag an Bord.

Bild 1: Die Brücke von der Nordsee zum Rhein | Bild 2: Fischerhafen von El Jadida, Marokko

Step 4
Lernt von Sachkundigen und dann tut es

Mindestens eine Person an Bord muss die Segeltheorie intus und die Befähigungsnachweise für die Schiffsführung haben, wenn man zu zweit segelt. Ich bin es nicht. Und dennoch nenne ich mich heute frech “Steuerfrau”. Schließlich bin ich Tausende Meilen und Hunderte Manöver mit Maha Nanda gefahren, erst half ich als Deckhand, dann – durch viel Zusehen, wie der Captain geschickt in die Marinas und Ankerbuchten manövrierte – wagte ich komplexere Aufgaben. Ich las viel, beobachtete viel und schritt irgendwann beherzt zur Tat. Wenn ich mich auch an die eine oder andere Aktion, wie das spezielle Ankermanöver vor Lanzarote mit Schrecken erinnere. Mit jedem Manöver, ob gelungen oder nicht, sammelte ich Erfahrungen.

Step 5
Lasst euch nicht von Rückschlägen unterkriegen

Für mich die größte Herausforderung. Denn ich neige zu Sturheit und Wutausbrüchen. Ganz schlechte Eigenschaften, wenn die Wetterprognose nicht stimmt und die Steuerfrau in ihrem Trotz gegen den Wind segeln will, während der Captain klar zur Wende ruft. Oder wenn die Dieselpumpe ihren Geist aufgibt und monatelanges zermürbendes Warten kombiniert mit Geldsorgen eine veritable innere Krise auslöst. Oder die Hafenbehörde von Rabat die Einfahrt wegen Sturm verweigert, der Motor streikt und die Segel zerrissen sind. Auch dies ist der Weg zur Steuerfrau: Ich wuchs an den Herausforderungen, lernte aus ihnen neue seglerische Fähigkeiten und Neues über mich selbst.

Step 6
Genießt ohne Leichtsinn

Als wir von unserer Reise träumten, wussten wir, dass wir auch Schwierigkeiten meistern würden. Wir wussten von schwerem Wetter, von permanent sich ändernden Plänen, von technischen Problemen. In der Theorie. Die extremen Emotionen, die das Langfahrtsegeln auslöst, konnten wir uns nicht vorstellen. Du bist entweder ganz oben oder ganz unten, selten dazwischen. Oft dachten wir: “Das war’s dann mit unserer Reise.” Aber noch öfter erlebten wir unbeschreibliche Glücksgefühle.

Je länger wir unterwegs waren, umso leichter fiel uns der Alltag. Maha Nanda – großes Glück auf See. Und dennoch behielten wir im Hinterkopf, dass Segeln immer mit Risiko verbunden ist. Ein paar Jahre Erfahrung, ein paar Tausend Seemeilen sind nicht wenig, aber auch nicht viel. Profis sind wir definitiv nicht, zudem machen auch Profis Fehler. Uns ist bewusst, dass wir jeden Tag Neues erkennen, dass wir nie aufhören werden zu lernen und nie unnötige Risiken eingehen werden. Grenzenlose Freude ja, grenzenloses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten: sicher nicht.

check-over

Steuerfrau

Falls ihr euch überzeugen wollt, ob ihr euch Steuerfrau nennen dürft, hier die Voraussetzungen dafür. Eine Steuerfrau…

  1. beaufsichtigt das Steuerruder, die Takelung und das Ankergerät
  2. muss imstande sein, alle Instrumente und die Seekarten richtig zu bedienen
  3. bei jedem Wetter das Schiff manövrieren
  4. im Notfall den Kapitän vertreten

Alle Voraussetzungen erfüllt. Check!

All ihre abenteuerlichen Geschichten auf See mit der Maha Nanda könnt ihr ebenso auf Ulrikes und Christophs Reiseblog Sailing-Mahananda nachlesen, welcher seit vielen Jahren mit Erfahrungsberichten auf See, vom Segelalltag und glücklichen Momenten wie Herausforderungen berichtet. Auch Anna und Malin sind seit mehreren Jahren mit ihrem Segelboot Hevandelli in Europa unterwegs. Im Artikel Vom Segeln und Seealltag – ein Interview mit Anna und Malin erfahrt ihr mehr von ihrem Alltag auf dem Segelboot und was sie gegen Seekrankheit tun.

Ein Segelboot klingt nach Freiheit und Abenteuer! Wo würdet ihr über die Wellen schaukelnd gern einen Trip mit dem Segelboot machen? Erzählt es uns in den Kommentaren.

Über die Autor:in

Ulrike Potmesil

Ulrike Potmesil, aufgewachsen in Niederösterreich, ist bekennende Reise-Enthusiastin. Schon im Vorschulalter besuchte sie im Kopf jene Orte, über die sie in ihren Büchern las. An der Universität Wien schloss sie das Studium der Kulturanthropologie und Indologie ab und war 23 Jahre als Redakteurin einer österreichischen Wochenzeitung tätig, bevor sie sich als freie Autorin und Podcasterin selbstständig machte. Unter anderem schreibt sie für die Segelzeitschrift “Yacht”. Gemeinsam mit ihrem Ehemann ist sie zu Land und Wasser unterwegs und sammelt ihre Geschichten.

Wilder
Warenkorb
Shopping cart0
Es sind keine Produkte in deinem Warenkorb!
0
nach oben